Dsc 6197 Bearbeitet 2

Mitgefühl

Achtsamkeit ist eine besondere Art der Aufmerksamkeit: im gegenwärtigen Moment, absichtsvoll und ohne Bewertung. Darüber habe ich im April geschrieben. Achtsamkeit verbessert die Kommunikation mit anderen Menschen. Wir sind offen für das, was die oder der andere ist und wir nehmen es auf, ohne die andere Person zu bewerten. Viele spirituelle Traditionen ergänzen die Achtsamkeit um eine andere wichtige Haltung: das Mitgefühl.

Ich möchte hier zwei Fragen kurz ansprechen: was ist das eigentlich, Mitgefühl und warum sollen wir Mitgefühl mit uns selbst und anderen haben?

Was ist Mitgefühl?

Mitgefühl ist ein vielschichtiger Begriff. Nicht alle verstehen dasselbe darunter. In dem von Daniel Gilbert herausgegebenen Buch (Gilbert 2017) wird das ausführlich diskutiert. Ich möchte hier zwei Begriffsbestimmungen nennen, die gut zeigen, welche Aspekte das Mitgefühl hat.

Die Achtsamkeits- und Mitgefühlsdenker Christina Feldman und Willem Kuyken (2011) schlagen Folgendes vor (zitiert nach (Gilbert 2017) und von mir übersetzt):

„Mitgefühl ist die Anerkennung, dass nicht jeder Schmerz „repariert“ oder „gelöst“ werden kann, aber alles Leiden wird in einer Landschaft des Mitgefühls zugänglicher gemacht. Mitgefühl ist eine vielschichtige Antwort auf Schmerz, Kummer und Angst. Es beinhaltet Freundlichkeit, Empathie, Großzügigkeit und Akzeptanz. Die Fäden des Mutes, der Toleranz und des Gleichmuts sind ebenfalls in das Gewebe des Mitgefühls eingewoben. Vor allem aber ist Mitgefühl die Fähigkeit, sich für die Realität des Leidens zu öffnen und seine Heilung anzustreben.“

Außerdem hat Willem Kuyken zusammen mit Kolleg*innen eine Definition gefunden, die viele Positionen zusammenfasst (zitiert nach (Gilbert 2017) und von mir übersetzt):

„Wir schlagen eine neue Definition von Mitgefühl als einen kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Prozess vor, der aus den folgenden fünf Elementen besteht, die sich sowohl auf Selbst- als auch auf Fremdmitgefühl beziehen: (1) Erkennen des Leidens; (2) Verstehen der Universalität des Leidens in der menschlichen Erfahrung; (3) Empathie für die leidende Person empfinden und sich mit der Not verbinden (emotionale Resonanz); (4) Tolerieren von unangenehmen Gefühlen, die als Reaktion auf die leidende Person hervorgerufen werden (z.B. Kummer, Wut, Angst), um so offen und akzeptierend für die leidende Person zu bleiben; und (5) Motivation zum Handeln/Handeln, um das Leiden zu lindern.“

Warum sollen wir mitfühlend sein?

Auf diese Frage möchte ich zwei Antworten geben.

Die Antwort der Wissenschaft

Die Wissenschaft zeigt, dass Mitgefühl für uns Menschen fundamental ist. In dem Mission-Statement des Center for Compassion and Altruism Research der Stanford Universität ist zu lesen:

„Unsere prosozialen Eigenschaften sind angeboren und bilden das Herzstück unserer gemeinsamen Menschlichkeit. Unsere Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, hat das Überleben und Gedeihen unserer Spezies über Jahrtausende hinweg gesichert.“

Das wird in vielen Forschungsarbeiten am CCARE und an anderen Orten bestätigt. Beteiligt sind daran zahlreiche Wissenschaften unter anderem die Psychologie und die Neurobiologie. Hier geht es also nicht um Moral: eine äußere Macht schreibt uns vor, mitfühlend zu sein, sondern es geht um das Überleben und das gute Leben von uns Menschen. Mitgefühl ist dafür eine wichtige Voraussetzung.

Die Antwort des Herzens

Sie wird nach meiner Meinung in dem folgenden Gedicht gut ausgedrückt:

Just For Me

Anonymous

What if a poem were just for me?
What if I were audience enough because I am,
Because this person here is alive, is flesh,
Is conscious, has feelings, counts?
What if this one person mattered not just for what
She can do in the world

But because she is part of the world
And has a soft and tender heart?
What if that heart mattered,
if kindness to this one mattered?
What if she were not distinct from all others,
But instead connected to others in her sense of being distinct, of being alone,
Of being uniquely isolated, the one piece removed from the picture—
All the while vulnerable under, deep under, the layers of sedimentary defense.
Oh let me hide
Let me be ultimately great,
Ultimately shy,
Remove me, then I don’t have to…
be…
But I am.
Through all the antics of distinctness from others, or not-really-there-ness, I remain
No matter what my disguise—
Genius, idiot, gloriousness, scum—
Underneath, it’s still just me, still here,
Still warm and breathing and human
With another chance simply to say hi, and recognize my tenderness
And be just a little bit kind to this one as well,
Because she counts, too.

Ich habe es so übersetzt:

Nur für mich

Was wäre, wenn ein Gedicht nur für mich wäre?
Was wäre, wenn ich Publikum genug wäre, weil ich es bin,
Weil diese Person hier lebendig ist, aus Fleisch und Blut besteht,
ein Bewusstsein hat, Gefühle hat, zählt?
Was wäre, wenn diese eine Person nicht nur für das zählte, was
sie in der Welt tun kann
sondern weil sie ein Teil der Welt ist
Und ein weiches und zartes Herz hat?
Was wäre, wenn dieses Herz eine Rolle spielen würde,
wenn Freundlichkeit zu dieser einen Person zählte?
Was wäre, wenn sie sich nicht von allen anderen unterscheiden würde,
sondern stattdessen mit anderen verbunden wäre in ihrem Gefühl, anders zu sein, allein zu sein,
Einzigartig isoliert zu sein, das eine Stück aus dem Bild entfernt –
Während sie verletzlich ist, tief unter den Schichten der sedimentären Verteidigung.
Oh, lass mich verstecken
Lass mich unendlich groß sein,
Unendlich schüchtern,
Entferne mich, dann muss ich nicht…
sein…
Aber ich bin.
Durch alle Mätzchen der Unterscheidbarkeit von anderen, oder das Nicht-wirklich-da-Sein hindurch
bleibe ich
Egal, wie ich mich verstelle –
Genie, Idiot, Glorreicher, Abschaum –
Unter der Oberfläche bin ich immer noch ich selbst, immer noch hier,
Immer noch warm und atmend und menschlich
Mit einer weiteren Chance, einfach Hallo zu sagen, und meine Zartheit zu erkennen
Und auch zu ihr ein bisschen nett zu sein,
denn sie zählt auch.

Referenz

Gilbert, Paul, Hrsg. 2017. Compassion: concepts, research and applications. 1 Edition. London ; New York: Routledge, Taylor & Francis Group.