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Im Jetzt sein

Wir üben in der Meditation immer wieder, unseren Geist auf den gegenwärtigen Moment zu richten. Mein Thema hier: warum wir das machen. Ich bin angeregt durch einen Artikel „The problem of now“ von John Martin Fischer (Fischer 2021), den ich vor kurzem las.

Haben wir nur den gegenwärtigen Moment?

Wir hören oder lesen manchmal von Meditationslehrer*innen die Aussage: das Jetzt ist alles was wir haben. Darum soll sich unsere Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment richten. Weil die Vergangenheit vergangen ist. Weil die Zukunft noch nicht begonnen hat. Bei manchen, auch bei mir, regt sich dann Widerspruch: wir sind doch Menschen mit einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Wir erinnern uns. Manchmal gerne, manchmal weniger gerne. Erinnerungen sind jedenfalls immer wieder sehr präsent. Unsere Vergangenheit bestimmt auch unsere Gegenwart. Wir können uns an ihr erfreuen. Wir können versuchen sie zu verstehen. Wir können daraus lernen. Vor uns liegt, hoffentlich, eine Zukunft. Das, was wir jetzt tun, hat einen Einfluss auf diese Zukunft. Wir können uns darauf freuen. Wir können uns davor fürchten.

Die Wichtigkeit des „Jetzt“ ist zentral für zahlreiche religiöse und mystische Traditionen. Zum Beispiel für den Autor und Lehrer Eckart Tolle und den Begründer der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion Jon Kabat-Zinn. Tolle schreibt in seinem Buch „The Power of Now“ (Tolle 2004): „Erkenne zutiefst, dass der gegenwärtige Moment alles ist, was du jemals hast. Mache Jetzt zum Hauptfokus deines Lebens. “  Darum sollen das Jetzt zum Hauptfokus unseres Lebens machen.

Wir haben Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft!

Der Artikel, den ich las, machte ein Fragezeichen. Und auch ich finde das mindestens missverständlich. Das wurde mir in jüngerer Zeit deutlich, als ich mit einer alten Frau zu tun hatte, die Kurzzeitgedächtnis verliert. Sie hat schöne Ereignisse im gegenwärtigen Moment, schöne Gespräche mit Kindern und Enkeln. Die machen ihr Freude. Aber wenn man sie später darauf anspricht, sind sie im Vergessen verschwunden. Mit manchen spirituellen Lehrer*innen könnten wir  sagen: das ist doch toll. Diese Frau lebt wirklich ganz im Jetzt. Aber wir merken auch: es fehlt etwas. Unsere Erinnerung ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Ich habe im vergangenen Jahr alle analogen Fotos eingescannt, die ich zwischen 1970 und 2002 gemacht habe. Ein unglaublicher Schatz an Erinnerungen. Das hat mein Leben sehr bereichert. Ich freue mich auch auf meine Zukunft. Jeden Morgen freue ich mich auf das schöne, was kommt. Und ich plane, was ich an diesem Tag tun möchte. Und ich plane auch, was ich in diesem Jahr und mit dem Rest meines Lebens anfangen möchte. Auch die Zukunft ist sehr präsent. So sage ich: wir haben nicht nur den gegenwärtigen Moment sondern auch unsere Vergangenheit und Zukunft.

Fokus auf den gegenwärtigen Moment lohnt sich!

Trotzdem bin ich davon überzeugt: es lohnt sich sehr, unsere achtsame Aufmerksamkeit auf das Jetzt durch Meditation zu stärken und zu entwickeln. Im Jetzt passiert sehr viel. Wir fühlen im Jetzt: Freude, Ärger, Angst. Wir denken im Jetzt. Erinnern uns im Jetzt. Planen im Jetzt. Handeln im Jetzt. Oder handeln nicht.

Achtsame Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment bedeutet: Ich nehme mich freundlich und ohne Bewertung wahr und lerne, meine Aufmerksamkeit selbst auszurichten. Das passiert tatsächlich nur im gegenwärtigen Moment. Nicht als strenge Beobachterin von außen.  In allem, was ich bin und tue, erfüllt mich mehr und mehr freundliche, nicht bewertende Aufmerksamkeit. So merke ich, wenn mich negative Gedanken, Bedauern, Sorgen oder auch Euphorie in Beschlag nehmen. Ich nehme in dieser Aufmerksamkeit auch wahr, wenn spontane Reaktionen entstehen. Vielleicht ärgerliche, abweisende, begeistert …

Vier Gründe dafür, im Jetzt zu sein

Wenn wir unsere achtsame Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment richten können gewinnen wir Gelassenheit, Einsicht, Freude und Freiheit.   

Gelassenheit wird gestärkt, wenn wir im gegenwärtigen Moment unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf unseren Atem und unseren Körper richten. Diese einfache Erfahrung können wir alle machen. Probiert es aus! Meditative Aufmerksamkeit auf unsere Körperempfindungen, Gedanken und Gefühle zeigt uns: das sind körperliche und geistige Ereignisse, die kommen, sich verändern und wieder verschwinden. Wir müssen uns nicht mit ihnen identifizieren, sondern können lernen, klug mit ihnen umzugehen. Freude entsteht, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf schöne Erlebnisse im gegenwärtigen Moment richten können. Auf ein leckeres Essen, eine schöne Begegnung, ein Musikstück und auch: auf eine schöne Erinnerung oder eine Vorfreude.  Und schließlich: Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment gibt uns die Freiheit, unser Leben so zu gestalten, wie es unseren Vorstellungen und Werten entspricht. Dann können wir aus unserer Vergangenheit lernen, ohne uns von Bedauern und Schuldgefühlen erdrücken zu lassen. Wir können unsere Zukunft klug und realistisch planen, ohne uns von Sorgen und Unsicherheiten überwältigen zu lassen.

So unterstützt uns die Achtsamkeitsmeditation dabei, gelassen, klug, froh und in Freiheit zu leben: mit unserer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 

Zum Schluss ein Zitat

Ich schließe mit einem Zitat von Jack Kornfield (Meade Sperry 2014): „Meditation comes  alive through a growing capacity to release our habitual entanglement in the stories and plans, conflicts and worries that make up the small sense of self, and to rest in awareness. In meditation we do this simply by acknowledging the moment-to-moment changing conditions — the pleasure and pain, the praise and blame, the litany of ideas and expectations that arise. Without identifying with them, we can rest in the awareness itself, beyond conditions, and experience what my teacher Ajahn Chah called jai pongsai, our natural lightness of heart. Developing this capacity to rest in awareness nourishes samadhi (concentration), which stabilizes and clarifies the mind, and prajna (wisdom), that sees things as they are.“

Referenzen

Fischer, John Martin. 2021. The Metaphysical Claims behind the Injunction to Be in the Now. Aeon. https://aeon.co/essays/the-metaphysical-claims-behind-the-injunction-to-be-in-the-now (28. Februar 2021).

Meade Sperry, Rod, hrsg. 2014. A beginner’s guide to meditation: practical advice and inspiration from contemporary Buddhist teachers. First edition. Boston: Shambhala.

Tolle, Eckhart. 2004. The power of NOW: a guide to spiritual enlightenment. Rev. ed. Vancouver, B.C., Canada : Novato, Calif: Namaste Pub. ; New World Library.