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Neun Haltungen der Achtsamkeit

Im Jahr 1979 entwickelte John Kabat-Zinn das heute weltweit anerkannte acht Wochen-Programm „achtsamkeitsbasierte Stressreduktion (Mindfulness Based Stress Reduction, MBSR)“.  In diesem Programm lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer Meditieren und andere Übungen, die es ihnen ermöglichen, Achtsamkeit zu entwickeln. Im Vorwort zur neuen Auflage des grundlegenden Buches von Jon Kabat-Zinn über MBSR schreibt der bekannte Meditations- und Achtsamkeitslehrer Thich Nhat Hanh: „Wie unzählige Menschen in den letzten 25 Jahren herausgefunden haben, ist Achtsamkeit die zuverlässigste Quelle von Frieden und Freude. Jeder kann das. Und es wird immer deutlicher, dass nicht nur unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden als Individuen, sondern auch unser Fortbestand als Zivilisation und Planet davon abhängen.“

Was ist Achtsamkeit? Jon Kabat-Zinn definiert das so: Achtsamkeit ist eine besondere Art der Aufmerksamkeit: sie richtet sich auf den gegenwärtigen Moment, ist absichtsvoll und nicht bewertend.

Achtsamkeit ist eine wichtige und zentrale Voraussetzung für ein gutes und gelungenes Leben und eine bessere Welt. Sie steht aber nicht allein. Sie wird ergänzt durch eine Reihe von anderen Fähigkeiten und Eigenschaften, die zu einem späteren Zeitpunkt im Zentrum unserer Überlegungen stehen werden. Das sind zum Beispiel Selbstakzeptanz, persönliches Wachstum, Entwicklung von Kompetenz, befriedigende menschliche Beziehungen und Überzeugungen die unserem Leben Sinn und Richtung geben.

In unseren Meditationen steht Achtsamkeit im Zentrum. Im Laufe der Zeit hat Jon Kabat-Zinn neun Grundhaltungen identifiziert, die für eine achtsame Haltung zentral sind. Diese Grundhaltungen erläutere ich heute.

1.    Anfängergeist

Dies ist ein Begriff, der vom Zen-Meister Shunryu Suzuki geprägt wurde und ein Schlüsselelement der Achtsamkeit ist. Es bezieht sich darauf, den gegenwärtigen Moment auf eine frische und offene Art und Weise zu sehen. Als ob wir die Dinge oder Menschen, die wir sehen, denen wir begegnen, zum ersten Mal sehen. Suzuki sagt: „Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten.  Im Geist des Experten gibt es nur wenige.“ Der Reichtum der Erfahrung des gegenwärtigen Momentes ist der Reichtum des Lebens selbst. Das, was wir denken und glauben, kann uns aber dabei einschränken, diesen Reichtum wirklich wahrzunehmen. Solche Konzepte helfen uns zwar, die Wirklichkeit zu strukturieren. Aber gleichzeitig ist es gut, unsere Umwelt und unsere Mitmenschen immer wieder neu und frisch zu erleben. Das fördert Freude, Wohlwollen und Kreativität.

Anfängergeist wertet Expertentum nicht ab. Wenn wir Dinge oder Menschen mit einem Anfängergeist freundlich und detailliert wahrgenommen haben, helfen uns Erfahrung und Wissen, klug zu handeln.

2.    Nicht Bewerten

Es geht darum, alles, was wir im gegenwärtigen Moment wahrnehmen, zuzulassen und nicht zurückzuweisen. John Kabat-Zinn gibt ein Beispiel: wenn du zum Beispiel übst, deinen Atem zu beobachten, kann es sein, dass du denkst „das ist langweilig“ oder „das funktioniert nicht“ oder „das kann ich nicht“. Die Haltung der Achtsamkeit erlaubt es, solche Gedanken und Gefühle zuzulassen, Ihnen Raum zu geben, sie wahrzunehmen und nicht zurückzuweisen. So wird das Leben leichter. Wir können mit den unangenehmen Gefühlen und Gedanken sein. Wir müssen keine Energie aufbringen, sie zu verdrängen. Wir müssen uns nicht impulsiv verhalten und damit die Situation für uns noch schwieriger machen. Es entsteht Raum für Freundlichkeit und Klugheit.

Es ist wichtig, festzustellen: Nicht-Bewerten ist keine generelle Haltung. Wenn wir Unrecht erleben, nennen wir es Unrecht. Wenn wir oder andere Menschen falsch behandelt werden, dann nehmen wir das klar wahr und verhalten uns entsprechend. Auch, wenn wir Gutes erleben, nehmen wir das so wahr und freuen uns. Die Haltung der Achtsamkeit erlaubt es uns, dafür einen klaren Blick zu entwickeln und klug zu handeln.

Nicht-Bewerten ermöglicht also auch die Wahrnehmung des gegenwärtigen Augenblicks in seiner ganzen Fülle. So können wir genießen aber auch klug Voraussetzungen dafür schaffen, dass Leid weniger wird und Glück mehr.

3.    Akzeptanz

Akzeptanz geht in dieselbe Richtung wie Nicht-Bewerten und geht noch einen Schritt weiter. Sie ist eine aktive Haltung dem gegenwärtigen Moment gegenüber, der jetzt so ist, wie er ist und der nicht geändert werden kann. Wenn wir zum Beispiel bedauern, dass wir einen Fehler gemacht haben, dann können wir das im gegenwärtigen Moment nicht ändern. Es nützt nichts, wenn wir uns jetzt dagegen wehren. „Ach hätte ich doch anders gehandelt“. Dafür wenden wir Energie auf, die keine Wirkung hat. Wenn wir stattdessen freundlich anerkennen, dass es jetzt so ist wie es ist, dann entsteht Ruhe und Klarheit, unsere Lebenssituation zum Besseren zu verändern.

Akzeptanz bedeutet also nicht, zu resignieren. Im Gegenteil. Sie ist eine freundliche und realistische Haltung und sie erleichtert Verbesserung. Auch hier ist wieder deutlich: Achtsamkeit benötigt Ergänzung. Zum Beispiel die Entwicklung von Klugheit, die es uns ermöglicht in einer ruhigen und akzeptierenden Haltung das Richtige zu tun. Achtsamkeit schafft dafür bessere Voraussetzungen.

Besonders wichtig ist Akzeptanz auch uns selbst und anderen Menschen gegenüber. Sie ist das Gegenteil vom harscher Kritik und Abwertung. Sie ist die Voraussetzung für eine Entwicklung unseres vollen Potenzials und unseres Mitgefühls anderen gegenüber.

4.    Loslassen

Wenn wir anfangen, unsere innere Welt wahrzunehmen, merken wir schnell, dass wir an bestimmten Gefühlen und Gedanken festhalten. Als Beispiel nenne ich noch einmal die Situation, in der wir einen Fehler gemacht haben oder glauben einen Fehler gemacht zu haben. Dann denken wir darüber vielleicht immer mehr nach. Wir grübeln. Wir versuchen, die Vergangenheit genau zu analysieren und denken darüber nach, was wir hätten besser machen können. Das ist keine kluge und reflektierte Haltung, sondern eine Art Zwang. Wenn wir Achtsamkeit einüben, lernen wir auch, loszulassen. Also wieder zurückzukommen zum gegenwärtigen Moment in seiner ganzen Fülle. Uns nicht okkupieren zu lassen von Gedanken oder Gefühlen. Ähnliches gilt für angenehme Gefühle und Gedanken und Erlebnisse. Wir haben vielleicht ein positives Erlebnis in der Kommunikation mit unserer Partnerin oder unserem Partner. Ein Erlebnis, dass wir uns immer schon gewünscht haben. Und dann ist es vorbei und wir fragen uns, warum geht es nicht weiter. Unsere Haltung ist, den gegenwärtigen Moment in seiner Fülle zu erleben und ihn dann loszulassen, sich also damit einverstanden zu erklären, dass sich das Leben von Moment zu Moment ändert.

Und auch hier gilt: sich Zeit zu nehmen und Klugheit zu investieren mit dem Ziel, unsere Lebensbedingungen zu verbessern ist damit nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil. Loslassen verhindert das zwanghafte Festhalten.

5.    Vertrauen

Vertrauen ist ein elementarer Bestandteil unseres Meditationstrainings. Vertrauen hat in unserem Kontext zwei wichtige Aspekte: Erstens vertrauen wir darauf, dass unsere Meditation und unsere Achtsamkeitsübungen eine positive Wirkung haben. Das Vertrauen beruht auf den Zeugnissen so vieler Menschen und auch auf den Ergebnissen wissenschaftlicher Untersuchung. So müssen wir nicht in jeder Situation und zu jedem Zeitpunkt die Wirksamkeit in Zweifel ziehen. Auch wenn solche Zweifel immer wieder kommen. Der andere Aspekt ist das Vertrauen auf uns selbst und auf die Welt. Dass wir als Menschen die Möglichkeit haben, Achtsamkeit zu entwickeln, dass wir immer mehr auf uns selbst hören können und dass wir Menschen finden werden, die mit uns auf diesem Weg gehen.

6.    Geduld

Vertrauen erlaubt Geduld. Die Entwicklung der Achtsamkeit braucht ihre eigene Zeit. Wir müssen nicht ständig überprüfen, welche Ziele wir erreicht haben. Wir können uns freundlich und geduldig auf den gegenwärtigen Moment einlassen.

7.    Handeln ohne Mühe (Non-Striving)

Dies ist auch eine Haltung, die wir in der Meditation einüben und dann mit in unseren Alltag nehmen. Lao Tse sagt: ich tue nichts und alles wird getan. Wir meditieren, weil wir die Absicht haben, unser Leben zu verbessern und mitfühlender zu werden.  In der Meditation selbst lassen wir aber die Ziele los und fokussieren uns auf das, was jetzt geschieht, Moment für Moment. Der Atem. Die Körpergefühle. Die Gedanken. Die Geräusche. Die Veränderungen, die wir uns wünschen, treten dann in ihrer eigenen Geschwindigkeit ein. Diese Haltung können wir mit in unser tägliches Leben nehmen. Da haben wir Absichten und auch Ziele. Aber wenn wir dann handeln, sind wir im gegenwärtigen Moment der Handlung und nicht immer mit dem Bewusstsein in der Zukunft. Mit Sorge, ob wir die Ziele auch erreichen. So werden wir maximal wirksam

Der Zen-Lehrer Karlfried Graf Dürckheim beschreibt das so: „Jedes Tun ist rasch und genau: Nur was nottut, sonst nichts! Wasserholen, wenn’s brennt, und nichts als das! Schlafen, wenn man schläft, und nichts als das. Alles ist voller Präsenz, hellwach und aus der Mitte heraus, ohne einen Hauch zwischen Denken und Tun. Kein Ver-halten, sondern ein Zulassen des Lebens, das aus der Mitte kommt, unbehindert und leicht wie ein Flügelschlag, zielsicher, wie ein Pfeil, der ins Zentrum trifft, unbeschwert wie der Schritt eines Tänzers, … präzise wie der Meißelschlag eines Meisters, lösend wie der Frühlingswind und immer durchsättigt von Liebe. Kein Haften, kein Haften, an was es auch sei. Im tiefsten Innern still, auch mitten im Lärm. Jeder Augenblick frisch wie der Tau …Kraftvolle Gelassenheit, die ein Sterben gelehrt hat, die heitere Klarheit des Sinns, die auch den Unsinn miteinschließt, die glückhafte Geborgenheit in aller Verlassenheit dieser Welt.“

Ursprünglich dachte John Kabat-Zinn: diese sieben Grundhaltungen bildeten eine vollständige Charakterisierung von Achtsamkeit. Im Lauf der Zeit hat er zwei weitere wichtige Haltungen hinzugefügt.

8.    Dankbarkeit

John Kabat-Zinn berichtet aus der Forschung: „Menschen, die wöchentlich Dankbarkeits-Tagebücher führen anstatt sich die Stressoren aufzuschreiben, bewegen sich mehr, haben weniger Gesundheitsprobleme, haben einen besseres Lebensgefühl, sind optimistischer was die nächste Woche angeht.

Tägliche Kultivierung von Dankbarkeit führt zu einem höheren Niveau von Wachsamkeit, Enthusiasmus, Entschlossenheit, Aufmerksamkeit, Energie sowie Schlafdauer und -qualität. Dankbare Menschen berichten auch über ein geringeres Maß an Depression und Stress, obwohl sie die negativen Aspekte des Lebens nicht leugnen oder ignorieren.

Menschen, die täglich über Dankbarkeit nachdenken, darüber sprechen oder schreiben, geben mit größerer Wahrscheinlichkeit an, jemandem mit einem persönlichen Problem geholfen oder einer anderen Person emotionale Unterstützung angeboten zu haben.“

9.    Großzügigkeit

Dazu finden wir in der Zeitschrift Psychology Today diese Aussage: „Wie eine gesunde Ernährung, Bewegung und gute Gene erhöht Großzügigkeit Ihre Lebensdauer. Eine Forschungsstudie von 2003 an der Universität von Michigan zeigt, dass die positiven Auswirkungen von Großzügigkeit die Verbesserung der geistigen und körperlichen Gesundheit sowie die Förderung der Langlebigkeit umfassen. In einer anderen Michigan-Studie, in der 2.700 Menschen über einen Zeitraum von 10 Jahren untersucht wurden, stellten Forscher fest, dass Männer, die regelmäßig ehrenamtlich arbeiteten, eine zweieinhalbmal niedrigere Sterblichkeitsrate aufwiesen als Männer, die dies nicht taten. Großzügigkeit reduziert Stress, stärkt das Immunsystem und stärkt das Zielbewusstsein.“

Quellen

Firestone, L., 2010. Generosity – What’s in it for you? [WWW Document]. Psychol. Today. URL http://www.psychologytoday.com/blog/compassion-matters/201011/generosity-what-s-in-it-you (accessed 1.19.20).

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Greenberg, M., 2012. Nine Essential Qualities of Mindfulness [WWW Document]. Psychol. Today. URL http://www.psychologytoday.com/blog/the-mindful-self-express/201202/nine-essential-qualities-mindfulness (accessed 12.26.19).

Kabat-Zinn, J., 2019. The 9 Attitudes of Mindfulness according to Jon Kabat-Zinn. Mindfulness Based Happiness. URL https://mindfulnessbasedhappiness.com/the-9-attitudes-of-mindfulness-according-to-jon-kabat-zinn/ (accessed 1.19.20).

Mark, 2017. 9 Foundational attitudes of mindfulness | Deepening practice. mindfultherapies.org.uk. URL https://www.mindfultherapies.org.uk/deepening-practice-the-9-foundational-attitudes-of-mindfulness/ (accessed 12.26.19).